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„Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns tragen.“ – Die Zeichen der Wahrnehmung in Corbeyran/Horne: Die Verwandlung

von Laura Imhoff

Als Franz Kafka Gregor Samsa eines Morgens erwachen lässt, „fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“

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Auch der Lesende findet Gregor in Corbeyrans und Hornes Comicadaption metamorphisiert: Im Anschluss an die einleitenden Captions wird der Blick des Lesenden zunächst auf zwei Panels gelenkt, die den ungeheuren Protagonisten fragmentarisch illustrieren. Schrittweise wird dabei aus der Nahansicht des Körpers herausgezoomt. Diese Dynamik steigert sich enorm beim Erblicken der graphischen Transformation des Ungeziefers zur vollständig dargestellten Schabe.

Indem sie sich zentriert auf dem Boden der hintergrundliefernden Splashpage befindet, verstärkt und bestätigt sie die Wahrnehmung der Verwandlung.

Nachdem der metamorphische Befund gänzlich beschaut wurde, versinnlichen sich rückwirkend zwei Kompositionsdetails: Auf dem Bett seines Zimmers liegend, berühren Gregors überdimensional große Antennen die zwei obigen Panels, wodurch diese gedankenblasenartig wirken. Ebenfalls reichen sie bis an die Deckenecken. Sie erreichen die Höhe der Perspektive des Lesenden, so dass dieser von Gregors tierischem Wahrnehmungsorgan berührt wird. Derartig werden die Selbstwahrnehmung des Protagonisten und die Fremdwahrnehmung durch den Rezipierenden graphisch zusammengeführt. Der Lesende entwickelt infolge des expositorischen Prädikats „fand“ durch die interne Fokalisierung auf sprachlicher Ebene und deren Visualisierung durch die Antennen einen Zugang zu Gregors wahrgenommenen Innenleben.

Allgemein erzeugen düstere Metabilder die transformierte Kargheit des zu rezipierenden Handlungsstrangs der sozialen Ausgrenzung, die sich in den einzelnen Panels nebst dem Inhalt farblich, aber auch durch einen eher modernen Zeichen- und starren Typographiestil gestaltet. Ein unbeweglich ruhiges, genormtes Panelgrid existiert nicht; signifikant erscheinen jedoch die insgesamt zwölf Splashpages. Ausfüllend hintergründig befinden sich auf ihnen schräg gesetzte, momentakzentuierende Panels. Durch die derartig fokussierte Illustration der Augenblicke Gregors und aufgrund des freieren Blickraumes verlangsamt sich der Erzählfluss. Auf inhaltlicher und graphischer Ebene eher ohne Leerstellen (Vgl. Iser, S. 237) erscheint die schematische Ansicht detailliert ausgefüllt komponiert. Sie erhält ihre Dynamik ebenfalls durch Panelübergänge zweiter, dritter und vierter Ordnung (Vgl. McCloud, S. 78f). Zeitlich und räumlich nacheinander gesetzt, sind sie an besonders dramatischen Passagen ungerade und überlappend angeordnet. Die Leserichtung scheint stärker definiert und die Unbestimmtheitsstellen wirken trotz der schmalen, klarweißen, dem Rezipierenden wenig vorstellenden Raum gebenden Rinnsteine etwas erweitert.

Ein hohes Maß an induktiver Leistung verlangt die Comicadaption jedoch nicht, denn sie nutzt ihre Hybridität hauptsächlich überschneidend als ergänzend. Meist wird nicht visualisiert, sondern funktional illustriert. Die erzählten Inhalte der narrativen Captions sowie der rechteckigen Gedankenblasen sind graphisch dargestellt, so dass der Rezipierende durch die doppelte Zeichenhaftigkeit wenig eingenständig konstituieren muss und intern voll erlebt. Selbst die inhaltliche Überschneidung wird illustriert, indem Text und Bild oft kreuzend gesetzt sind.

Die Konstruktion von Bedeutung ist in den Panels des Comics allerdings nicht zu verkennen und wird besonders bei der Transformation des verwandelten Gregor Samsa von einem Ungeziefer in eine Schabe deutlich: Auch wenn Samsa zunächst als konkrete Schabe stärker determiniert wird, schließen seine außerordentlichen Wahrnehmungsorgane die allegorische Ebene nicht aus und lassen so auch intermedial Empfindungen realisieren.

Literatur:

Corbeyran, Eric; Horne, Richard; Wilksen, Kai: Die Verwandlung von Franz Kafka, München, 2012.

Hesse, Hermann: Demian – Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend, Berlin, 1974.

Iser, Wolfgang: Appellstruktur der Texte, in: Warning, Rainer: Rezeptionsästhetik – Theorie und Praxis, München, 1975.

Kafka, Franz: Die Verwandlung, Stuttgart, 1995.

McCloud, Scott: Comics richtig lesen, Hamburg, 1995.

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